Du must das Leben nicht verstehen

Du must das Leben nicht verstehen

 

Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.

Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.

 

Rainer Maria Rilke

 

 

2025

2025

Stufen

 

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse
Die Geschichte vom grünen Fahrrad

Die Geschichte vom grünen Fahrrad

 

Einmal wollte ein Mädchen sein Fahrrad anstreichen. Es hat grüne Farbe dazu genommen. Grün hat dem Mädchen gut gefallen. Aber der große Bruder hat gesagt: „So ein grasgrünes Fahrrad habe ich noch nie gesehen. Du musst es rot anstreichen, dann wird es schön.“ Rot hat auch dem Mädchen gut gefallen. Also hat es rote Farbe geholt und das Fahrrad rot gestrichen. Aber ein anderes Mädchen hat gesagt: „Rote Fahrräder haben doch alle! Warum streichst du es nicht blau an?“ Das Mädchen hat sich das überlegt und dann hat es sein Fahrrad blau gestrichen. Aber der Nachbarsjunge hat gesagt: „Blau? Das ist doch so dunkel. Gelb ist viel lustiger!“ Und das Mädchen hat auch gleich gelb viel lustiger gefunden und gelbe Farbe geholt. Aber eine Frau aus dem Haus hat gesagt: „Das ist ein scheußliches Gelb! Nimm himmelblaue Farbe, das finde ich schön.“ Und das Mädchen hat sein Fahrrad himmelblau gestrichen. Aber da ist der große Bruder wieder gekommen. Er hat gerufen: „Du wolltest es doch rot anstreichen! Himmelblau, das ist eine blöde Farbe. Rot musst du nehmen, Rot!“ Da hat das Mädchen gelacht und wieder den grünen Farbtopf geholt und das Fahrrad grün angestrichen, grasgrün. Und es war ihm ganz egal, was die anderen gesagt haben.

 

 Ursula Wölfel „Achtundzwanzig Lachgeschichten“

Das Wesentliche

Das Wesentliche

 

Im Wesentlichen kommt man zur Ruhe. Denn das Wesentliche erfüllt.
Je mehr wir vom Wesentlichen abweichen, desto unruhiger werden
wir, desto zerstreuter und desto verwirrter. Daher können wir an
unserem Erleben ablesen, inwieweit wir uns von ihm entfernt haben.

Wenn wir am Wesentlichen sind, spüren wir, dass es vorwärts geht,
dass etwas ans Ziel kommt, und zwar so, dass sich dort etwas
Wesentliches entwickelt.

Das Wesentliche ist vielen und vielem gemeinsam. Daher lassen wir
beim Wesentlichen das Einzelne, Enge, Begierige, Maßlose hinter uns,
sind eingebunden, verfügbar ausgreifend und zugewandt.

Das Wesentliche – anders als das Unwesentliche – dauert, und weil es
ruhig und gelassen sein kann, ist es am Anfang oft unscheinbar. Aber
es ist beharrend. Und es ist wohltuend und wird im Lauf der Zeit von
vielem mitgetragen.

Wann kommt man zum Wesentlichen? Vor allem durch das Innehalten.
Denn es zeigt sich nicht sofort, sondern erst zur rechten Zeit.

Manchmal, wenn wir vom Wesentlichen abgewichen sind, kann es
lange dauern, bis wir wieder zu ihm finden. Denn das Wesentliche verlangt
auch Abschied.

Bert Hellinger